Hans-Dieter Klein (Wien)
Nachruf auf Wolfgang Marx (1940-2011) [1]
Wolfgang Marx war beständiger Leser von Marcel Prousts À la récherche du temps perdu. Wenn er jeweils mit der Lektüre des großen Romans ans Ende gekommen war, begann er von Neuem, und so fort durch Jahre und Jahrzehnte. Bei welchem Kapitel war er wohl gerade angelangt, als ihn am 19. August 2011 plötzlich und unerwartet der Tod ereilte?
Die hohe und umfassende literarische Bildung, die ihn auszeichnete, formte ihn selbst zu einem großen Meister der Sprache in seinen eigenen – philosophischen – Schriften. Als Philosoph trat er ein für das philosophische System und wandte sich vehement gegen den Zug der Zeit, welche vielfach meint, die Textgattung des philosophischen Systems wäre „obsolet“ geworden.
Über das Märchen vom Ende der Philosophie. Eine Streitschrift für systematische Rationalität. Würzburg 1998 lautet etwa der Titel einer Monographie. Er selbst war einer der wenigen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem eigenen Systementwurf hervortraten. Die Grundlegung, entsprechend den Logiken von Hegel und Cohen, bildet seine Reflexionstopologie. Tübingen 1984. Eine weitere Ausdifferenzierung erfolgt in seinem Werk Bewußtseins-Welten. Die Konkretion der Reflexions-dynamik. Tübingen 1994. In diesem Zusammenhang sei noch genannt sein Buch Ästhetische Ideen. Untersuchungen über die Grundlagen einer Theorie der Kunst. Bonn 1981.
Die sprachliche Gestalt dieser seiner systematischen Hauptwerke, die ganz der Tradition Kants, des deutschen Idealismus und des Neukantianismus verpflichtet sind, erinnert mehr an Prousts großen Roman als an seine philosophischen Anreger und Wegweiser, vielfältig verschlungen, voller Einschübe, sodass sich diese Schriften nur einer sehr geduldigen und ruhigen Lektüre erschließen können. Ganz anders geschrieben sind viele seiner Aufsätze: leicht lesbar, knapp und klar. Die Lektüre seiner Schriften kann jedem dringend empfohlen werden und es ist ratsam, den Anfang mit einigen seiner Aufsätze zu machen, um erst langsam in den Dschungel seiner systematischen Hauptwerke einzudringen und dort wunderbare Gedankenblüten zu entdecken.
Sein unbedingtes Eintreten für das philosophische System und seine Kritik an jener Unsitte der deutschen Philosophie, die schon Kant beklagt hatte, die Geschichte der Philosophie für die Philosophie selbst zu halten, hat zum Kontakt mit der ähnlich denkenden Wiener transzendentalphilosophischen Szene und auch mit mir geführt. Wolfgang Marx hat so öfters Wien als Vortragender und Gesprächs-partner bei Symposien besucht, er war treibende Kraft bei der Gründung der Internationalen Gesell-schaft „System der Philosophie“, für mich wurde er zudem zu einem herzensguten und treuen Freund, stets aufgelegt zur Hilfe mit Rat und Tat.
Freilich wurde der philosophische Kontakt mit uns Wienern begünstigt durch einen glücklichen Umstand: Wolfgang Marx logierte stets im gleichen Hotel in Wien, wenige Schritte hinter der Staats-oper. Er war ein leidenschaftlicher Opernbesucher, ein hervorragender Kenner, und dieser Leidenschaft verdanken wir so manchen seiner Besuche in Wien.
Lieber Wolfgang, Du fehlst!
[1] erschienen in:
Rudolf Langthaler, Michael Hofer (Hg.):
Michael Theunissen.
Zu religionsphilosophischen und theologischen Themen in seinem Denken.
Wiener Jahrbuch für Philosophie, Nr. 43 / 2011, new academic press, Wien 2013, S. 184f.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und Verlags.