Ein Zugang zum philosophischen Werk von Wolfgang Marx
Kurzvortrag anlässlich der Eröffnung der Marx-Bibliothek
in der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte am Samstag, den 13. Juli 2013
Prof. Dr. Andreas Eckl, Frankfurt am Main
I.
Das Werk von Wolfgang Marx umfasst eine stattliche Anzahl veröffentlichter Bücher und Aufsätze, eine große Zahl von Vorlesungen, die sich auf Tonträgern befinden und derzeit digitalisiert werden, um sie vor dem physischen Verfall zu bewahren, sowie auch ein umfangreiches unveröffentlichtes Manuskript. Die lange Reihe der Publikationen beginnt mit der Doktorarbeit, in welcher ein vertracktes Spezialthema der nicht eben eingängigen Hegelschen Logik behandelt wird. [1] Schon in dieser kritischen Arbeit entwickelt Wolfgang Marx einen eigenen, höchst originellen philosophischen Standpunkt, den er sehr bald zu systematisch eigenständigen Überlegungen ausbaut. Man kann den Zeit-punkt, an dem dies geschieht, vielleicht für das Jahr 1977 ansetzen, in welchem das Buch „Transzendentale Logik als Wissenschaftstheorie“ erscheint. [2]
Die zwei umfangreichen, von hermetischer Komplexität geprägten Hauptwerke folgen in den Jahren 1984 und 1994. In ihnen legt Wolfgang Marx bis ins einzelne ausgearbeitet seine eigene systematische Philosophie vor; zunächst unter dem Titel „Reflexionstopologie“ eine Untersuchung der logischen Formen der Gedankenarbeit des Geistes oder in Marx’ eigenen Worten: „die Theorie der endlichen Bewegungen des Denkens von und zu Gedanken“, [3] dann unter dem Titel „Bewußtseins-Welten“ eine Untersuchung der Formen der Wirklichkeitsbeziehungen und Wirklichkeitsgestaltungen des Bewusstseins. [4]
Das Manuskript im Nachlass behandelt die Formen ästhetisch-sinnlicher Gestaltung; aber auch hier hebt der erste Satz wie selbstverständlich mit Gedanklich-Logischen an – „Gedanken, wie bestimmt auch immer und worauf bezogen sie sein mögen, sind ...“ – behandelt also die ästhetischen Phänomene im Kontext einer Theorie des Bewusstseins und speziell dann in Abgrenzung von Religion und Recht. [5] Diese eigenständigen Werke sind auf eine Weise systematisch durchgearbeitet und systematisch miteinander verbunden, dass sie trotz der spezifischen Felder, die sie thematisieren, eine Einheit bilden. Verschiedene Begriffe ließen sich aufzeigen, die systematische Verbindungsstücke darstellen und so die Einheit gewährleisten und erschließbar machen: „Konzentration“, „Interferenz“, „Distanz“ und „Verschiebung“ bzw. „topologische Distanz“ und „topologische Verschiebung“ sind einige von diesen.
Es gibt aber auch einen anderen Weg, über den man einen Zugang zum Werk und zu dessen Einheit finden kann, und den möchte ich hier einschlagen. Eine „Invariante“ der Marxschen Philosophie – auch dies einer ihrer termini technici – ist nämlich ihr affirmativer Bezug auf Marcel Proust. Bereits in dem schon erwähnten Buch „Transzendentale Logik als Wissenschaftstheorie“ findet sich 1977 als Motto ein längeres Zitat von Marcel Proust; im Vorwort des Buches „Ästhetische Ideen“, schreibt Marx 1981 im Vorwort, dass die dort „entwickelten Gedanken (...) auf Einsichten (beruhen), die Marcel Proust in seinem Hauptwerk A la recherche du temps perdu gewonnen hat“. [6] Die Bezüge der „Re-flexionstopologie“ von 1984 auf Proust sind zwar weniger explizit, ließen sich aber zweifellos rekonstruieren. Ganz explizit und implizit nehmen dann aber die „Bewußtseins-Welten“ 1994 wieder Bezug auf Proust. Aus dem Zusammenhang dieses Buches möchte ich nun einen zentralen Gedanken von Marx herausgreifen, um ihn mit einigen Gedanken Prousts zu erläutern. Im vollen Bewusstsein, damit den Zusammenhang zu zerstören, auf den es ankommt, wähle ich dieses Verfahren als Notbehelf, um das überaus komplexe und im Grunde nur in langjährigem Studium sich erschließende Marxsche Werk dergestalt wenigstens an einem Punkt konkret vor uns Gestalt annehmen zu lassen. Ich zitiere diesen Gedanken aus den „Bewußtseins-Welten“ zunächst einmal, wohl wissend, dass er so isoliert nicht verständlich sein kann. Das Zitat soll an dieser Stelle nur eine Vorstellung davon vermitteln, in welcher Sprache und in welcher Syntax Wolf-gang Marx seine Gedanken entfaltet hat. Natürlich habe ich die Hoffnung, durch die nachfolgenden Erläuterungen diesen Gedanken dann in einigen seiner Grundzüge transparent machen zu können.
II.
„Der Kern des Bewusstseins, seine Selbstpräsenz – zunächst im Gefühl, das freilich im-mer schon vom ausgreifenden Bewusstsein imprägniert ist, dann in der ganz abstrakten, denkenden Selbstgewissheit – verdichtet sich nicht zu bloßer Punktualität, sondern zur Einheit des selbstgeschichtlichen Mediums. Dieses wird sich als die Grundlage der gemeinsamen geschichtlichen Determination potentiell aller Subjekte erweisen; der Grund dafür muss erkannt werden in der Kopräsenz der Gedanken in der Selbstpräsenz des Bewusstseins, darin, dass Bewusstsein schlechthin angewiesen ist auf Gedanken, in und mit denen als den entscheidenden, grundlegenden Instrumenten seiner möglichen Helligkeit es sich selbst überschreitet. Mit solchen es selbst transzendierenden Gedanken gewinnt jedes Bewusstsein die gemeinsame, imaginäre Dimension der Zeit.“
(Bewußtseins-Welten, S. 6, Hervorhebungen im Original)
Beginnen wir mit dem Ende dieser Satzsequenz: „Mit solchen es selbst transzendierenden Gedanken gewinnt jedes Bewusstsein die gemeinsame, imaginäre Dimension der Zeit.“ Die Anspielung ist unüberhörbar: auch Proust, sein Erzähler Marcel und womöglich auch der Leser der Recherche „gewinnt“ – wie schon der Titel des letzten Bandes, „Die wiedergefundene Zeit“, Le temps retrouvé, verspricht – die Zeit in bestimmten Gedanken und Überlegungen wieder. Diese die Zeit gewinnenden, wiederfindenden Gedanken entwickelt Marcel in Selbstreflexionen über eine Reihe ihm selbst erklärungsbedürftiger Erlebnisse der unwillkürlichen Erinnerung, mémoire involontaire. In diesen besonderen Erinnerungserlebnissen sind dem erzählenden Ich zwei Egos gleichzeitig präsent, das Ego, das sich erinnert, und jenes Ego, an das sich das sich erinnernde Ich erinnert. Bekanntestes Beispiel ist das Erlebnis des Erzählers, beim Schmecken einer in Tee getunkten Madeleine unvermittelt in das Ich zurückversetzt zu werden, das als Kind in Combray bei Tante Léonie eben eine solche Madeleine in Tee tunkte und genoss. Währenddessen ist jedoch das sich erinnernde Ich nicht aus dem Bewusstsein verschwunden. Es ist vielmehr in der Lage, den Erinnerungsvorgang zu beobachten und zu analysieren. Ein weiteres, sehr erhellendes Beispiel ist die Empfindung des Erzählers, die dieser zu Beginn des zweiten Balbec-Aufenthaltes während eines körperlichen Anfalls von Beklemmung in der Brust verspürt, eine Empfindung, die ihm den Tod seiner Großmutter klarmacht, weil und indem ihn diese Empfindung zurückführt zu seinem Ich des ersten Balbec-Aufenthaltes, zu einem Ich, dem die Großmutter in einer ähnlich bedrängenden Situation zur Hilfe kommen kann. In der späteren Gegenwart nun wird ihm im Blick auf die damalige Hilfe, von der er weiß, dass sie jetzt nicht mehr zu erwarten ist, um so deutlicher und wahrer, dass der Großmutter das Leben geraubt ist, dass sie unwiederbringlich tot ist.
Dieses simultane Zusammen-Präsentsein der Ich-Gedanken bei gleichzeitiger Trennung beider durch die Reflexion, die sich darauf richtet – Wolfgang Marx hat es in unserem Satz „Kopräsenz“ genannt –, diese „Kopräsenz“ nun ist es, die es Marcel möglich erscheinen lässt, der ewig fliehenden, von Augenblick zu Augenblick ihn immer nur mit-reißenden Zeit zu entgehen, einer Zeit, in der „die Imagination nicht zum Zuge kommt“, „l’imagination n’entrant pas en jeu“. [7] Nur in den Erlebnissen der Kopräsenz glaubt er, sich die Freiheit seines Bewusstseins von der Determination durch diesen mitreißenden Zeitstrom verschaffen zu können. Nicht mehr mitgerissen, sondern dem einsinnig in die Zukunft ziehenden Strom enthoben – indem im gezogenen Ich zugleich das Ich der Vergangenheit präsent ist –, entdeckt sich Marcel, da ihm die Fähigkeit zur Trennung der Egos nicht verloren geht, die gesamte Wirklichkeit erstmals, und zwar in ihrer „Essenz“ (vgl. Bd. VII, S. 265, 267 u.ö.), die „Essenz“ der Wirklichkeit also, die das erinnerte Ich empfunden hat und die in bestimmter Relation zu der Wirklichkeit steht, die das sich erinnernde Ich in der Situation der unwillkürlichen Erinnerung aufs neue empfindet. Wir dürfen demnach sagen, dass das sich erinnernde Ich seine Augenblicksdeterminiertheit überwindet, oder mit Marx gesprochen „transzendiert“, in dem Gedanken, der es, seiner selbst und seiner Wirklichkeit bewusst, zu dem Ich, das es war, zusammen mit der Wirklichkeit, die das gewesene Ich empfunden hat, führt.
Man könnte einwenden, dass diese Überlegungen nur für das Ich des Romans Gültigkeit besitzen, dass also nur der Marcel der Recherche sich in der Kontinuität seiner Ge-schichte auf diese Weise seiner selbst vergewissert. Aber Proust präsentiert diese Überlegungen seines Roman-Ichs durchaus in einem allgemeingültigen Sinn. Er fordert uns nämlich auf, uns in gleicher Weise in entsprechenden Selbstreflexionen unser je eigenes Ich und unsere je eigene Wirklichkeit zu gewinnen. Wie der Schriftsteller im Medium seiner Kunst die „wirkliche“, in seinem Ich erlebte Wirklichkeit auszudrücken hat, und nur diese, so muss jedes Ich – Proust spricht in diesen Reflexionen durchgängig vom „wir“ - die „unbekannten Zeichen“ seines „inneren Buches“ „in einem Schöpfungsakt“ entziffern (vgl. Bd. VII, S. 277). Wolfgang Marx sagt deshalb in voller Übereinstimmung mit Proust: „Mit solchen es selbst transzendierenden Gedanken gewinnt jedes Bewusstsein die gemeinsame, imaginäre Dimension der Zeit“ (Hervorhebung A.E.). Über Proust hinaus geht Marx dabei lediglich mit der philosophisch-vertiefenden Behauptung, dass den Egos oder Bewusstseinen eine Zeit, genauer: die „Dimension der Zeit“ „gemeinsam“ (Hervorhebung A.E.) sein muss. Diese Vertiefung ist getragen von einem transzendentalphilosophischen Argument: Die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass ein Ich sich seine Zeit gewinnt, indem es sich transzendiert, ist die Annahme einer überindividuellen Zeitdimension, in deren Medium diese Selbsttranszendierung statthaben kann; eine überindividuelle Zeitdimension, die wie Marx sagt, „imaginär“ sein mag, aber als Bedingung der Möglichkeit dennoch eine notwendige Idee darstellt.
Gehen wir auf dieser Grundlage an den Anfang des Marxschen Satzes: „Der Kern des Bewusstseins, seine Selbstpräsenz (...) verdichtet sich nicht zu bloßer Punktualität, sondern zur Einheit des selbstgeschichtlichen Mediums.“ Marx’ Aussage zunächst, dass sich der „Kern des Bewusstseins (...) nicht zu bloßer Punktualität (verdichtet)“, ist vor unserem Hintergrund leicht verständlich. Die Punktualität des Augenblicks, in dem nach Proust – wie soeben schon gehört – „die Imagination nicht zum Zuge kommt“, ist ausdehnungslos und ohne Dimension, ohne Raum. Solche Augenblicke sind die Augenblicke der verfließenden Zeit, in der sich das Bewusstsein nicht auf sich richten, sich nicht konzentrieren, oder wie Marx an dieser Stelle sagt, „verdichten“ kann. Das „selbstgeschichtliche Medium“ ist demgegenüber der ausgedehnte ‚Raum’ der Zeit oder die Dimension der Zeit, in der sich das Ich seine Geschichte, seine Zeit wiedergewinnt, indem es sich erinnert und sich gleichzeitig das Ich, das es war, und das Ich, das es ist, in der Gegen-wart präsent, d.h. „kopräsent“, macht. Diese Wiedergewinnung steht dabei, so die weitergehende Marxsche Behauptung in diesem Satz, unter der Bedingung, dass sie in einem Akt oder in der Einheit eines besonderen Vollzugsbereiches von Gedanken vollzogen wird. In einer ausgedehnten Präsenzzeit muss das Bewusstsein, das sich seiner selbst vergewissern will, sich selbst doppelt und doch einheitlich erscheinen. Das selbstpräsente Bewusstsein kann sich nur, wie es Marx’ Formulierung sagt, in der „Einheit des selbstgeschichtlichen Mediums“ (Hervorhebung A. E.) „verdichten“. Prousts Analyse der doppelten Empfindung zweier Ich in der Einheit eines mémoire involontaire-Erlebnisses, der Einheit der „geheimnisvollen Doppelspur“ – „un double et mistérieux sillon“ (Bd. V, S. 237) -, [8] Prousts Analyse also, ist hier bei Marx radikal verallgemeinert. Auch dies frei-lich, wenn man so will, ganz in Übereinstimmung mit Proust, der das Leben außerhalb dieser Erlebnisse der Selbstgewissheit mit Tiefendimension radikal für bedeutungslos erklärt. „Die feine Rille (le petit sillon) aufzuspüren, die der Anblick eines Weißdornbusches oder einer Kirche in uns eingezeichnet (a creusé en nous) hat, fällt uns zu schwer. Dafür (im Sinne von: „statt dessen“, Anm. A. E.) spielen wir ein weiteres Mal die Sym-phonie, wir besuchen ein weiteres Mal die Kirche, bis wir sie – auf jener Flucht vor unse-rem eigenen Leben, (...), jener Flucht, die man Gelehrsamkeit nennt – ebenso gut und in der gleichen Weise kennen wie der kundigste Liebhaber der Musik oder der Archäologie. Wie viele lassen es denn auch dabei bewenden, schöpfen (n’ extraient rien) nichts aus ihren Eindrücken, altern nutzlos und freudlos dahin, gleichsam als Junggesellen der Kunst („comme des célibataires de l’ Art)!“ (Bd. VII, S. 295)
Wir können jetzt den letzten Teil unserer Marxschen Satzsequenz, den Mittel-Teil, verstehen: „Dieses (i.e. das „selbstgeschichtliche Medium“, Anm. A.E.) wird sich als die Grundlage der gemeinsamen geschichtlichen Determination potentiell aller Subjekte erweisen; der Grund dafür muss erkannt werden in der Kopräsenz der Gedanken in der Selbstpräsenz des Bewusstseins, darin, dass Bewusstsein schlechthin angewiesen ist auf Gedanken, in und mit denen als den entscheidenden, grundlegenden Instrumenten sei-ner möglichen Helligkeit es sich selbst überschreitet.“ Marx’ Gedanke nimmt hier die Form einer programmatischen Erklärung an, dass es etwas einzusehen gilt, das wir uns an Prousts Selbstreflexionen bereits klar gemacht haben, in den „Bewusstseins-Welten“ allerdings erst im folgenden Kapitel durch eindringliche Bedingungsanalysen eingelöst wird: Nur in Akten der Selbstüberschreitung des Bewusstseins, die es in bestimmten Gedanken fixiert, in Gedanken, mit denen es seine Augenblicksbindung transzendiert, und sich die Dimension seiner eigenen Geschichte eröffnet – nur auf der Grundlage solcher Kopräsenz-Erlebnisse oder Gedanken „in der Selbstpräsenz des Bewusstseins“ ist es möglich, von einer „gemeinsamen geschichtlichen Determination potentiell aller Subjekte“ zu sprechen. Die „Einheit der Erfahrung“, wie man mit Kant sagen könnte, bzw. mit Marx „die gemeinsame geschichtliche Determination“, ist von einer vor Wolfgang Marx unbekannten Bedingung abhängig: von der Selbstüberschreitung des dynamischen Bewusstseins durch die Dynamik seiner Gedanken nämlich, durch die das Bewusstsein sich und die Wirklichkeit, durch welche es sich über sich und die Wirklichkeit in komplexen Kopräsenz-Gedanken aufklärt, entdeckt – freilich nur mit endlichem Erfolg, nie vollständig und total, wie Marx an anderer Stelle ausführt. [9]
III.
Mit diesen Überlegungen zu den Bedingungen der Selbst- und Wirklichkeitserkenntnis haben wir in gewisser Weise Proust verlassen, auch wenn eine Erläuterung dieser Bedingungen weiterhin im Rückgriff auf Proust gelingen mag. Bedingungsanalysen sind das Feld der Philosophie, und zu welchen Ergebnissen sich Wolfgang Marx in diesem Feld in immer größerer Entfernung von den poetischen Darstellungen Prousts, aber in Fortsetzung des von uns einmal eingeschlagenen Weges durcharbeitet, dies soll in einem kurzen Blick auf die inhaltliche Bestimmung der Zeit, wie sie die „Bewußtseins-Welten“ im Fortgang entwickeln, immerhin noch angedeutet werden. Nach bewährtem Muster greife ich einen geeigneten Satz aus dem Zusammenhang heraus und versuche ihn für unsere Zwecke zu interpretieren, mithin an seinem Beispiel einen Eindruck von der Originalität und Differenziertheit der systematischen Philosophie von Wolfgang Marx zu vermitteln:
„Im Jetztpunkt, an der Schnittstelle von Raum und Zeit, an der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, zieht die Zeit sich zusammen, dort allein ist Zeit. Zeit ist weder vergangen noch gibt es sie als Zukunft, als könne oder müsse sie sich zukünftig, d.h. in der Zeit offenbaren. Die Zeit und ihre dreidimensionale Gliederung, dieses dem Bewusstsein aus allen seinen Erfahrungen, besonders den Selbsterfahrungen Vertrauteste, scheint sich in der Konzentration auf den unerfahrbaren, unendlich kleinen Jetztpunkt zu verflüchtigen und die Bedeutung des Mediums des Realen, besonders seiner Bewegung zu sein, ganz zu verlieren. Näher besehen aber zeigt es sich, dass die Reflexion auf Zeit – in ihr – die punktuelle Realität und dimensionale Idealität verbindet und das gewöhnliche, intuitive Vorverständnis auf sich beruhen lässt sowie allein in der Lage ist, die funktionale Einheit von Raum und Zeit aufzuklären.“ (Bewußtseins-Welten, S. 94f.)
Auf den ersten Blick wird hier deutlich, dass diese Bestimmung der Zeit ohne Vermitt-lung mit philosophischen Vorarbeiten der Bestimmung von Zeit nicht verstanden wer-den kann – ebenso wie die Zeit, wie Marx hier sagt, nicht durch Intuition als die verstanden werden kann, die in bestimmter Relation zum Raum steht. Diese Aufgabenstellung, an der das intuitive Verständnis scheitert, kann uns vielleicht als Schlüssel dienen, um in den Bereich der philosophischen Vorarbeiten zur Bestimmung der Zeit zu gelangen, in dem Marx seine originelle Lösung von jenen abhebt. Aufgeklärt werden muss, so hieß es im letzten Satz, „die funktionale Einheit von Raum und Zeit“. In dieser Aufgabenstellung trägt Marx dem Faktum Rechnung, dass die physikalische Bestimmung der Wirklichkeit nach Einsteins Relativitätstheorie Raum und Zeit nicht mehr als getrennte Dimensionen, sondern in wechselseitiger Abhängigkeit begreift. „Krümmungen“ des Raumes bedeuten Modifikationen der Geschwindigkeit des Zeitablaufs und umgekehrt. Systematische Phi-losophie, die die Grundlegung der Wirklichkeit in Abstimmung mit der naturwissen-schaftlichen Theorie der Wirklichkeit zu rekonstruieren versucht, muss demnach einer bzw. der „funktionalen Einheit von Raum und Zeit“ Geltung verschaffen.
Die Aufgabe ergibt sich aus einem transzendentalphilosophischen Traditionszu-sammenhang. Schon Kant stellt in der „Kritik der reinen Vernunft“ neben die „Transzendentale Logik“ systematisch selbständig die „Transzendentale Ästhetik“, in der er seine Theorie von Raum und Zeit als von der Logik unabhängige Grundlagen der Erkenntnis entwickelt. Dies ist freilich eine Konsequenz des Axioms der Zweistämmelehre, gemäß welchem die Struktur unseres Erkenntnisvermögens durch die Dichotomie von „Rezeptivität der Eindrücke“ und „Spontaneität der Begriffe“ bestimmt ist (vgl. KrV, B 74). Es fehlt aber bei Kant eine Theorie der „funktionalen Einheit von Raum und Zeit“ wahr-scheinlich auch deshalb, weil die Newtonsche Physik der Kantischen Zeit diese Einheit noch nicht zu denken verlangte. Nach Kant und Einstein hat diese Aufgabe dann Ernst Cassirer explizit für die Transzendentalphilosophie formuliert, ohne seinerseits eine eigenständige philosophisch-systematisch Lösung dieser Aufgabe vorzulegen. An solch einer Lösung also versucht sich nun Wolfgang Marx in den „Bewußtseins-Welten“, indem er diese „funktionale Einheit“ von jenen Bedingungen des Bewusstseins aus erhellt, welchen das Bewusstsein beim Verständnis seiner von ihm unabhängigen Grundlagen unterworfen ist: „Nicht sind Raum und Zeit selbst durch Bewusstsein – so wären sie nicht Grundlagen für es – (...)“, (Bewußtseins-Welten, S. 93).
Seine Lösung sieht zunächst vor, dass Raum und Zeit als unabhängige Bedingungen des Bewusstseins, als Bereich der Unmittelbarkeit und Realität, als das Andere zum sich mit sich vermittelnden Bewusstsein anerkannt werden. Diese Anerkennung bedeutet, dass dieser Bereich sich nie vollständig dem endlichen Verstehen vermitteln wird, mithin immer entzogen bleibt, wohingegen Hegels Theorie der Andersheit, gegen die Marx sich hier implizit wendet, ja gerade die totale Vermittlung des Anderen behauptet. [10]
Nichtsdestoweniger besitzt das Bewusstsein aber nach Marx die Mittel, um sich mit dieser seiner Unmittelbarkeit ins Verhältnis zu setzen, sie in Grenzen sich verständlich zu machen und zu erschließen. Es muss diese Mittel besitzen, da seine Realitätserschließung zweifellos in Grenzen gelingt; das heißt, es muss sich so, wie es sich „indifferent“ auf alles richten kann, um es sich zu erschließen (vgl. ebd. S. 95), auch auf das Verhältnis richten können, in welchem es selbst zur Realität steht. Dazu muss es zuerst „positional fixiert“ sein bzw. sich selbst positional, d.h. „raum-zeitlich fixieren“ (Bewußtseins-Welten, S. 92, 94), wie Marx sagt. Und das heißt: körperlich-leiblich seine Stelle in Raum und Zeit einnehmen und diese als solche erkennen, andernfalls auch das andere Moment im Verhältnis, also Raum, Zeit, Realität, nicht aus einer Verhältnisbestimmung heraus erkennbar werden könnte. Ein freischwebender Geist ohne Körper kann so wenig wie ein verstorbener Mensch hoffen, die raum-zeitliche Welt zu erkennen. [11] Weiter muss es selbst gegenüber den auseinander tretenden Momenten des Verhältnisses eine Einheit darstellen: „Da nur im Bewusstsein bzw. durch es Gewahrung, gar Wissen von seinen Grundlagen denkbar ist, muss Bewusstsein gedacht werden als eine Einheit, in der solches, was – als Grundlage und Grundgelegtes – grundverschieden ist, zugleich und unmittelbar in ihm durch– und miteinander besteht.“ (ebd.)
Auf dieses Verhältnis also kann das Bewusstsein reflektieren und es sich in der Reflexion verständlich machen. Dies wiederum ist für uns nicht unverständlich: Nichts anderes hat Proust in seiner Reflexion auf die unwillkürliche Erinnerung getan. Er hat sich verständlich gemacht, was in der Kopräsenz der unwillkürlichen Erinnerung von seinen beiden Ich und den zugehörigen Wirklichkeiten sichtbar wurde, und dass die Unwillkürlichkeit gerade ein Ausweis der Unmittelbarkeit oder Andersheit des kopräsent Gegenwärtigen war und ist, ein Ausweis der Tatsache, dass das kopräsent Gegenwärtige nicht lediglich auf selbstproduzierten „Hirngespenstern“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, B 455) beruht. Erst bei Marx wird diese Handlung dann aber zum Theorem in einer umfassenden Theorie des Bewusstseins, zu dem Theorem, dass „Bewusstsein gedacht werden (muss) als eine Einheit, in der (...) was grundverschieden ist“, nämlich Unmittelbarkeit und Vermittlung, „zugleich und unmittelbar in ihm durch- und miteinander besteht“.
Kehren wir nun zu Marx’ Lösung des Problems der „funktionalen Einheit von Raum und Zeit“ zurück. Im Hinblick auf eine Erläuterung dieser Lösung können wir jetzt als nächstes feststellen, dass Zeit als das Andere des Bewusstseins, als die vom Bewusstsein unabhängige Real-Grundlage des Bewusstseins, im Zusammenhang des ganzen, aus den „Bewußtseins-Welten“ eben zitierten Satzes, als dasjenige erscheint, was sich „im Jetztpunkt“ „zusammenzieht“ und „dort allein ist“ (Bewusstseins-Welten, S. 94). In diesem „unendlich kleinen Jetztpunkt“ „verflüchtigt“ sich die Zeit, wie Marx sagt, und dieses Bild besagt, dass bei fortschreitender Ausdehnungsabnahme des Zeitraumes die Dimension zu verschwinden droht und bei vollendeter Punktualität verschwunden ist, die das Bewusstsein benötigt, um von der Zeit als bewusstseinsunabhängiger Grundlage des Bewusstseins noch etwas zu verstehen, sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Auch das kennen wir aus unseren Proust-Erläuterungen. Der mitreißende Strom der Zeit, der aus einem Strom von Jetztpunkten besteht, ermöglicht dem mitgerissenen Bewusstsein keine Distanz, selbst wenn jeder Punkt des Stromes Garant der Realität des Bewusstseins ist. In den jeweiligen Jetztpunkten verliert sich das Bewusstsein, das Distanz zwecks Reflexion benötigt; es fehlt ihm der „Raum“, wie man metaphorisch sagen kann, jener „Raum“, der Kopräsenz und damit die Eröffnung der Dimension der Zeit ermöglichte. Anders gewendet: Ein Verstehen der Zeit, als realer Grundlage des Bewusstseins, die dem Bewusstsein im Jetztpunkt erscheint, ist unmöglich, wo die Möglichkeit der Kopräsenz fortgefallen ist. Im ausdehnungslosen Jetztpunkt ist das dimensionale Medium verschrumpft, in dem das Bewusstsein Grenzen setzen könnte, auf die es sich zum Zwecke der Selbsterkenntnis als von ihm selbst gesetzte Grenzen beziehen könnte.
Marx’ Lösung können wir uns demnach nähern, indem wir jene Bedingung transzen-dentalphilosophisch verstehen, die wir soeben mit der Metapher des „Raumes“, den das Bewusstsein zur Erschließung der Zeit benötigt, umschrieben haben. In der Tat begründet Marx, was wir hier nur andeuten, ohne es weiter verfolgen zu können, dass das Bewusstsein im Verhältnis zur Zeit als seiner realen Grundlage stehend sich diese in der Reflexion verständlich macht – was möglich sein muss, weil es in Grenzen gelingt –, in-dem es sich begreift als Instanz der Verbindung von realer Zeitbedingung und idealer Raumbedingung. Letzteres sofern der Raum als Dimension des Zugleich der in ihm koordinierten Elemente gedacht werden muss (vgl. Bewußtseins-Welten, S. 94). Im Jetzt-punkt versteht das Bewusstsein, dass es sich dort nur auf den Jetztpunkt verstehend beziehen kann, wenn sich dort wirklich ein idealer Raum öffnet, in dem Kopräsenz möglich ist. Aus dem Ausdruck „Kopräsenz“ wäre an dieser Stelle das zeitliche Bedeutungsmoment („Präsenz“ = Gegenwart) für einen Augenblick zu suspendieren; statt dessen gilt es zu sehen, dass in diesem Ausdruck ein räumliches Verhältnis des Zugleich angesetzt ist.
Um dies ein letztes Mal mit Proust zu erläutern, könnte man sagen, dass dieses räumliche Verhältnis der „Kopräsenz“ der beiden Ich und ihrer Wirklichkeiten während eines mémoire involontaire-Erlebnisses in der quasiräumlichen Entfernung der beiden verschiedenen Ich-Gedanken besteht, die in der Einheit der gedanklichen Beziehung des sich erinnernden Ichs auf das erinnerte Ich zusammentreten; denn in der Zeit ist das Verhältnis nicht; es ist wie Proust sagt „im Außerhalb der Zeit“, „en dehors du temps“ (VII, S. 265), während selbstverständlich das sich erinnernde Ich zeitlich-räumlich positioniert, mit seinem lebendigen Bewusstsein und seinem Leib den räumlich-zeitlichen Bedingungen seines Jetzt unterworfen ist. Die Entfernung der beiden Ich, die „außerhalb der Zeit“ in eine Beziehung gebracht werden, welche das Verständnis der Dimension der Zeit ermöglicht, in der sie real aufeinander folgten, ist nicht zeitlich, sondern räumlich distanziert. Und diese Distanziertheit bedarf einer variablen Dimensioniertheit; denn die Ich-Gedanken müssen als solche gedacht werden, die in variablen Entfernungen zueinander stehen können. Marx’ Formulierung, dass Raum und Zeit als eine „funktionale Einheit“ gedacht werden müssen, ist somit vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Bewusstsein die Verbindung zwischen „punktueller Realität und dimensionaler Idealität“ (Bewußtseins-Welten, S. 94) herstellt. Wir müssen in dieser Formulierung nur Raum und Zeit ergänzen, also nur punktuelle Realität der Zeit und dimensionale Idealität des Raumes in Einheit gesetzt denken, damit „die Schnittstelle von Raum und Zeit“ (ebd.) im Jetztpunkt als Funktionseinheit deutlich wird – eine Funktionseinheit, die die transzendentalphilosophisch-bewusstseinstopologische Bedingung darstellt, damit das Bewusst-sein sich selbst begreifen kann: als in der Zeit stehend, während es sie doch in Gedanken transzendieren kann.
[1] Marx, Wolfgang, Endliche Kontamination von Unmittelbarkeit und Vermittlung. Eine Untersuchung zum Begriff der ‚Logik’ der endlichen
Bewegung des Seins. Inaugural-Dissertation, FU Berlin, Berlin 1965.
[2] Marx, Wolfgang, Transzendentale Logik als Wissenschaftstheorie, Systematisch-kritische Untersuchungen zur philosophischen
Grundlegungsproblematik in Cohens ‚Logik der reinen Erkenntnis’, Frankfurt am Main 1977.
[3] Marx, Wolfgang, Reflexionstopologie, Tübingen 1984, S. 15.
[4] Marx, Wolfgang, Bewusstseins-Welten, Tübingen 1994.
[5] Das Manuskript wird zur Zeit von mir für den Druck vorbereitet und wird voraussichtlich 2015 oder 2016 erscheinen.
[6] Marx, Wolfgang, Ästhetische Ideen. Untersuchungen über die Grundlagen einer Theorie der Kunst, Bonn 1981, S. 7.
[7] Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurter Ausgabe herausgegeben von Luzius Keller, 5. Auflage,
Frankfurt am Main 2003, Bd. VII, S. 265. Alle deutschen Zitate im folgenden aus dieser Ausgabe (das französische Original ist, wenn
beigefügt, ohne genaue Quellenangabe nach der Pléiade-Ausgabe der Recherche wiedergegeben).
[8] In einem seiner beiden Proust-Aufsätze, die hier den Leserinnen und Lesern nur empfohlen werden können (Marx, Wolfgang,
Prousts ästhetischer Realismus, in: Europas Weg in die Moderne, hrsg. v. Willi Hirdt, Bonn, Berlin 1991, S. 57-72, und Marx, Wolfgang,
Das „Wunder der Analogie“. Reflexionen zum Kernproblem der Ästhetik von Marcel Proust, in: Romanische Forschungen, 102:1 (1990),
S. 42-57), hat Marx selbst „die geheimnisvolle Doppelspur“ seiner Analyse zugrundgelegt (cf. Marx, Prousts ästhetischer Realismus, S. 65).
[9] Marx, Wolfgang, Hegels Theorie logischer Vermittlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 21.
[10] Dies hat Wolfgang Marx bereits in seiner Inauguraldissertation „Endliche Kontamination von Unmittelbarkeit und Vermittlung“ (Berlin 1965)
ausgeführt und in der erweiterten Fassung unter dem Titel „Hegels Theorie logischer Vermittlung“ (Frankfurt am Main 1972) noch einmal
vertieft ausgearbeitet.
[11] Marx hinterfängt hier durch seine Bewusstseins-Topologie anthropologische Grundannahmen von Helmuth Plessner.