WOLFGANG MARX: REFLEXIONSTOPOLOGIE
EINLEITUNG
Das Denken hat ein leichtes Spiel ohne die Wirklichkeit, die es zur Auseinandersetzung fordert. Ohne den Einfluß der Wirklichkeit, ohne die Beziehung zur Welt sind und bleiben die Gedanken die leeren Formen einer denkenden Aktivität, deren Kraft weder entwickelt noch geprüft worden ist. Zwar kann das Denken sich auf sich selbst zurückziehen und den es umgebenden, bestimmenden und einbindenden Konstellationen entwinden sowie die harte Macht der Eigendynamik des Gedachten, das sich nie vollständig in Gedanken übersetzen, in noch so weit entwickelten Theorien zureichend erschließen läßt, für sich künstlich außer Kraft setzen; dann aber reduziert es sich auf die spielerisch-kombinatorische Handhabung bloß aufgegriffener Materialien nach in ihrer Welt erschließenden Bedeutung ganz unerkannten Regeln, die diese nur wie Steine auf dem Brett letztlich unverbindlich und folgenlos hin- und herzuschieben gestatten.
Ideen sind die in stetiger, angestrengter Auseinandersetzung mit der Realität aufgebauten Potentiale des Denkens, mit denen es sich die Stoffe, wenn auch immer nur begrenzt, aneignet und dabei auch sich selbst differenziert. In ihnen ist nicht - wie in einer starren Formel - nur festgehalten, was einmal zu denken möglich gemacht wurde. Zwar sind sie fest in den Maß, in dem sie eindeutig bestimmt sind, aber nicht starr in dem Sinn, als wären sie ewig unveränderbare Größen, die unter alle Aspekten, unter denen es möglich ist, sie zu betrachten, sich selbst ganz gleich bleiben. Wo sie - im Vergessen der wandelbaren, in aller Regel nicht mehr aktuelle Konstellationen, in denen sie entstanden, entwickelt wurden und, zu einer bestimmten Zeit vielleicht sogar berechtigt, sich durchsetzen konnten - nur repetiert und im fatalen Wiederholungszwang abgeleiert und so mißbraucht werden, da nehmen sie zwangsläufig den irrationalen Charakter sakrosankter Instanzen an, die für alle Zukunft als das zu gelten prätendieren, als was sie lange schon, von nur vordergründig und kurzfristig Sicherheit spendenden Traditionen getragen, in Anerkennung standen. Mit der falschen Autorität vermeintlich gesicherter Tatsachen, die das Denken allzu leicht und zu oft suggestiv bestimmen, weil sie es mit unbefragten Berufungsinstanzen erleichtern und bequem machen, stabilisieren die Ideen die liebgewordenen Gewohnheiten und den ganzen Mechanismus, in dessen Gesetzen Wahrheiten die für ihre Durchsetzung notwendige, Prämien aller Art verheißende Hochschätzung allein finden können. Das Staunen über die Ideen als die wichtigsten geschaffenen schöpferischen Mittel des Denkens, deren geschichtlich einmal erwiesene Kraft leicht auf den Gedanken führen kann, sie besser als noch nicht erschöpfte Potentiale denn als ausgelaugte Formeln aufzufassen, kann nicht in ganz durchdringender, im Kern abschließender, restloser Einsicht, die nie zu gewinnen ist, vergehen, sofern die Ideen als die treibenden, über jede erreicht Erkenntnisgrenze drängenden Grundlagen sich erhalten, sondern allein durch Gewohnheit, die alles zum Selbstverständlichen macht und nivelliert.
Ideen als Potentiale nicht nur zu verstehen und ihre konkret manifestierte Dynamik in der Geschichte, in der sie sich scheinbar abgeschlossen, ruhiggestellt und einer naiv unbetroffenen Kontemplation offenbart hat, nicht bloß zu bestaunen, sondern fruchtbar wirken zu lassen, das muß mit hartnäckigen Widerständen rechnen. Ideen als Potenzen aufzufassen, die über ihre jeweils bekannten, begrifflichen Fassungen hinausdrängen, das bedeutet nicht nur, die vermeintlich sicheren Säulen geistiger Weltorientierung und damit auch der Anerkennung von Gedankengebäuden, die auf ihnen beruhen, zur Dispositition zu stellen und einem nicht enden könnenden Zersetzungsprozeß auszusetzen; es liegt darin vielmehr auch ein Angriff auf das die Zukunft sichern wollende und die Angst vor dem Nichts einer fortsetzungslosen Gegenwart ohne die Vergangenheit, auf die bezogen sie wenigstens in Grenzen kalkulabel wird, neutralisierende Bewußtsein, Zukunft sei nichts anderes als der lange und immer länger werdende, schwere, aber auch bergende Schatten der Vergangenheit.
Daß das lebendige Bewußtsein sich fortsetzen, seine Gegenwart aus der Vergangenheit und mit einer resultierenden Zukunft leben und führen, d.h. ein Selbstkontinuum in der Zeit schaffen will, ist nicht nur legitim, sondern sogar eine notwendige Erhaltungsbedingung; denn anders könnte es sich im Wandel seiner selbst und in den Veränderungen um es herum nicht verstehen. Im schon Erschlossenen findet es die Bedingungen weiteren Erschließens. Das Gerichtetsein auf Zukunft mit der Intention, diese zwar auch als die eigene, kontinuierte zu leben und zu führen, zugleich aber nicht in zwanghaft starren Obsessionen, die nur aus der Vergangenheit des Erlebens kommen, zu verstellen, zwingt zur illusionslosen Abschätzung der rationalen Möglichkeiten, die zu anderer, vergangener Zeit zu anderen Zwecken entwickelt wurden, und zum Mißtrauen gegen die anheimelnde Kraft des Schattens der Vergangenheit, der scheinbar Vertrautes einfach nur weiterzuschieben scheint, sowie zum Zweifel an seiner Reichweite. Nicht die - oft irrational metaphysikfeindliche - antiinduktivistische Skepsis allein sollte die Zukunft mit der Vergangenheit durch die Spannkraft universeller Ideen, die scheinbar über der Zeit schweben, zusammenzuschließen hindern, sondern die Einsicht darin, daß, so berechtigt das Geschlossenheit intendierende architektonische Interesse der Vernunft auch sein, wie fruchtbar es sich auch entfaltet haben mag, Systeme nichts anders als nie vollkommene und vollendete Systematisierungen des jeweils Bekannten sein können. Nur für eine bestimmte, begrenzte Zeit vermögen Systeme die für den Fortgang des Wissens und Erkennens unabdingbare Forderung nach Kohärenz und Konsistenz ausreichend, nicht aber perfekt sicherzustellen.
Für die Wissenschaften ist es von grundlegender Bedeutung, für die immer nur partikularen, objektbezogenen Einsichten systematische Zusammenhänge zu konstruieren und an diesen als Voraussetzung der Integration anderer festzuhalten, bis neue Erkenntnisse neue Systeme bzw. die Transformation zu solchen fordern, damit die isolierten Wahrheiten in das hellere Licht kommen können, das alle zusammen bilden und auch auf sich selbst zurückwerfen; die je einzelnen, wahren Einsichten oder Erkenntnisse gewinnen dadurch schärfere Kontur und reichere Dimension, sie verlieren aber auch Bedeutung an die übergreifenden Beziehungen. Dem begleitenden Bewußtsein entsteht durch die Systematisierung ein höheres Maß an Klarheit und Beherrschbarkeit der Wirklichkeit. Eine einmal erreichte systematische Geschlossenheit muß in ihren Grundlagen erkannt und nach ihrem beschränkten, problematischen Erkenntniswert abgeschätzt werden; sie darf nicht dazu verführen, der in ihr liegenden Faszinationskraft dahin nachzugeben, die Welt ästhetisch-anschaulich dem Bedürfnis nach Harmonie anheimzugeben und nur dem äußerlich anzupassen, was man von ihr erwartet.
Es gibt keinen Grund dafür, die Welt als das ganz Andere, von der man nur in sehr ferner Zukunft und dann unter Umständen nur unter heute nicht ahnbaren, eingreifend veränderten Bedingungen des Wissens und Erkennens ein wenig mehr wird erfahren können, zu neutralisieren, indem man über sie vorentscheidet, sie habe das zu sein, was in einen einmal entwickelten, vorgezeichneten und durch Gewöhnung und partiellen Erfolg stabilisierten Rahmen sich problemlos einziehen läßt und von diesem in seiner Grundstruktur schon antizipiert ist. Die verblüffende Faszinationskraft der Systeme der spekulativen Metaphysik beruht kaum auf dem, was diese zur Vermehrung des Wissens, das alles je Gewußte überholt, einschränkt oder sogar obsolet macht, jedenfalls aber zu verlassen zwingt, effektiv beigetragen haben; sie gründet vielmehr in dem offenbar elementaren Bedürfnis des lebendigen Bewußtseins, sich auf Dauer zu stabilisieren an alten Formen, aber auch Inhalten des Denkens, mit denen man sich in freilich falscher Ruhe für alles Neue blind machen kann, weil sie die geistigen Operationen im Bewährten gleichsam automatisch ablaufen lassen, von dem man freilich vergeblich hofft, es gebe den sicheren Rahmen ab, dem mit geschlossenen Augen zu jeder Zeit und in allen Konstellationen vertraut werden kann.
Vordergründig befreien sakrosankte Ideen, deren überschüssige Kraft stillgelegt wurde, und die auf ihnen errichteten Systeme davon, für die unabwendbaren Lasten der Zukunft, aber auch schon der Gegenwart, geeignete Instrumente zu erfinden, die den immer neu entstehenden Problemen nicht einfach die alten Muster oktroyieren, sondern deren eigenes Gewicht berücksichtigen. Aus dem Stillstand philosophischer Einsicht Methode gemacht zu haben, ist das besondere, gegenwärtig noch immer anerkannte Verdienst unserer Zeit. Es liegt aber in der Transformation der Philosophie zur gelehrten, andächtigen Beschäftigung mit toten, aber prominenten Philosophemen und besonders mit ihren Schöpfern, die man gern genial nennt, um die Bemühung um sie zu überhöhen und zu rechtfertigen, nicht etwa ein törichtes oder verstocktes Versagen vor den Forderungen des Tages, sondern eine aus unübersehbar schwierigen Problemen resultierende Not vor. Während in den materialen Wissenschaften an den Rändern, zu denen sie vorgedrungen sind, immer neue Tatsachen und damit auch neue Fragen wie von selbst entstehen, die permanent neue theoretische Lösungen erzwingen, mit denen zuweilen eingreifende Revisionen an den etablierten Theoriebeständen verbunden sind, hat die Philosophie ihre fundamentale Not damit, überhaupt Stoffe und aktuelle, öffnende und fruchtbare Fragestellungen zu finden. Es ist keineswegs verwunderlich, daß dort, wo von vorgegebenen, immer neuen Stoffen keine Forderungen zur Bewältigung zwingend gestellt werden, Probleme gesucht und dann auch meist mühelos gefunden werden, wo sie zuhauf vorliegen: in der Philosophiegeschichte. Probleme dieser Art können jedoch nicht dazu dienen, Philosophie als Wissenschaft zu legitimieren, die in aktueller Lage Weltdeutung versucht; der Übereifer des philosophischen Alexandrinismus, der sich begnügt mit der zum Selbstzweck gewordenen, immer raffinierter werdenden Exegisierung kanonisierter Texte der großen Alten, an denen man sich, ohne irgendeine Verbindlichkeit einzugehen, lange erbauen, die man bequem als Surrogate solcher Stoffe benutzen kann, die nur im harten Ringen um erst zu schaffende Ideen bewältigbar sind, kann auf Dauer über den ihm inhärenten Leerlauf nicht hinwegtäuschen. Hermeneutisches Philosophieren oder das Rekonstruieren traditioneller Theoriebestände nach irgendwelchen methodischen Normen, die Allgemeinverständlichkeit und Exaktheit verbürgen sollen, sowie das permanente Nachsinnen darüber, welche Schätze der Vergangenheit es wert sind, gehoben und poliert zu werden, und wie dies dann den gestellten Fragen und Vorlagen, an die man sich wendet, angemessen bewerkstelligt werden soll, können dem bloßen Rückbezug auf welche Tradition auch immer die Legitimation ihres Zwecks nicht entnehmen. Diese philosophischen Surrogattätigkeiten sind zwangsläufig mit dem für die beirrenden, ja bestürzenden Faktum dauernd konfrontiert, daß es nichts zu verstehen oder zu rekonstruieren gäbe, wenn Philosophie schon immer sich auf die passive Hinnahme vorgegebener Texte beschränkt hätte; es gäbe nichts zu rekonstruieren, wenn immer schon der Mut zu produktiver Konstruktion gefehlt hätte, der sich nicht durch leicht ersinnbare methodische Skrupel, die in aller Regel auf dogmatisch gesetzten, letztlich willkürlichen Vorentscheidungen beruhen, beirren läßt und in larmoyante Sterilität mit einem wohlfeilen, aus den Tiefen der nur noch beschworenen Tradition geschöpften Alibi nicht umschlagen will. Auch die intensivste Versenkung in den Geist der vermeintlich besseren Zeiten und die Erzeugung überfeiner und dementsprechend weniger griffigen Interpretationsmaterien verhelfen nicht zu einer Antwort auf die unabweisbare Frage, welche sachliche Relevanz der Aufarbeitung traditioneller Probleme und Theorien zukommen kann.
Die in der Geschichte des menschlichen Denkens entstandenen Konzeptionen von umfassenden Synthesen alles Einzelnen zu einem es erschließenden, durchdringenden theoretischen Ganzen lassen sich zwar guten Gewissens nicht mehr zu aktuellem Leben erwecken, da sie differenziert und konkret nicht mehr durchführbar sind, da sie zur oberflächlichen Allgemeinheit verurteilt sind; aber sie haben ihre Attraktionskraft nicht nur nicht eingebüßt, sondern vielmehr gesteigert. Der Bereich des Wissens läßt sich nicht mehr mit einer alles integrierenden, überall mühelos aktualisierbaren, anwendbaren Formel zusammenklammern; die Varianten metaphysisch-spekulativer Systematik haben sich nicht nur als zu allgemein, sondern auch als auf sandigen Fundamenten beruhend erwiesen: mit keiner von ihnen läßt sich Realität wirklich fassen, sie sind nur schöne Bilder einer von Realität abgewandten, entlasteten Kontemplation. Die großen Entwürfe der Welt in Gedanken greifen nicht mehr; nicht enden aber will die religiös imprägnierte Verehrung schöner, aber gehaltloser Geschlossenheiten, die sich als Tröstungsmittel der in ihrer Stabilität immer bedrohten Seelen bewährt haben. Nachdem die berückend naiven, aber gediegenen Weltbilder der alten Metaphysik abdanken mußten, mußte das immer findige Bewußtsein einen angemessenen Ersatz erfinden. Dieser wurde gefunden im Ich, dem genialen, alle Gedanken ganz aus sich produzierenden höchsten Punkt der Einheit der Systeme, der, weil diese die Welttotalität nicht mehr erfassen können, Einheit und Geschlossenheit eines Bildes von der Welt wenigstens ideell repräsentieren muß. Der Rückgang auf die Formen und ihren Grund im erkennenden, schöpferischen Subjekt der guten, alten Zeit erreicht einen Zipfel der allerdings vergangenen Realität und verschafft dem Aneignungs- und Identifikationsbedürfnis einen ruhigen, allerdings toten Bezugspunkt sowie die offenbar unvermeidliche und immer gewünschte Illusion, am Ursprung sich zu befinden, wenn man, getragen von einer großen Gemeinde des Personenkultes, einem prominenten Gedankenmacher sensibel sich anpaßt. Seit die großen Harmonien in der Wirklichkeit nicht mehr zu entdecken sind, sucht sich das philosophische Bewußtsein diese allzu oft und gern durch die Versenkung in die Produkte der großen Schöpferhelden, an deren Ideen zu partizipieren bedeuten soll, an der gedanklichen Erschaffung einer Welt, die nicht nur die eines Autors ist, direkt beteiligt zu sein.
Der Rückgang in die Geschichte des Denkens wird zum unbegründeten Rückzug von den Forderungen der Gegenwart, und die gelehrte Beschäftigung mit dem Reichtum der Gedanken, die eine offenbar unerschöpfliche, produktive Phantasie der Gattung Mensch hervorbrachte, droht sich in genußvoll-erhebender Versenkung darum zu betrügen, daß der Stoff ihrer subtilen Einlassungen schon abgelebt ist und nur künstlich das Leben gewinnen kann, das das des Gelehrten ist, wenn nicht die Aufgabe erkannt und aufgenommen wird, die sich daraus ergibt, daß die schon gedachten Gedanken gegenwärtige Folgen hervorgebracht haben.
Hic et nunc realisiert sich Vernunft parzelliert. Der viel bewunderte Zusammenschluß des Wissens in geschlossenen Systemen war nur möglich, solange die geistige Kraft, die ihnen zugrundelag, sich an solchen Grenzen festmachen ließ, die es möglich machten, diese sich überall, in einem großen, aber prinzipiell überschaubaren Raum entwickeln zu sehen. Gott, Welt und alles, was in ihr ist, monadologisch zu erfassen, das war nur auf der Voraussetzung möglich, daß das Denken und das Sein als kommensurable Größen gedacht wurden. Nachdem aber die Einheit von Denken und Sein, wie weit oder wie eng sie auch immer gefaßt wurde, sich erwiesen hat als unbegründbare und überdies allzu allgemeine, im Einzelnen nicht mehr erkenn- und durchführbare Harmoniehypothese, blieb dem Denken, das notwendig überall Einheiten sucht, wie gespannt und ergänzungsbedürftig sie auch immer sein und bleiben mögen, nur der Rückzug auf sich selbst, wenn es nicht aufgeben wollte, was sein Gesetz ist: überall Einheit, überall Separiertes in Einheit zu sichern. Nachdem die große metaphysische Einheit im Weltbezug sich nicht mehr gewinnen ließ, mußte im Denken selbst wenn schon nicht die Einheit der Wirklichkeit, so doch die seines Bewußtseins und der diversen entfalteten Zugangsweisen zur Realität gefunden werden, wenn es überhaupt möglich sein können sollte, vom Gedanken der Einheit unter veränderten, erschwerten Realisierungsbedingungen das Wichtigste zu retten: seine Funktion, das Subjekt in sich zu konzentrieren, um es dann frei und bestimmt der Welt gegenübertreten zu lassen.
Transzendentale Reflexionstheorie hat von Anfang an den Rückgang zum Subjekt nicht als Erschließung einer unerschöpfbaren, autarken Subjektquelle, die Eines und Alles ist und in sich abschließt, mißverstanden, sondern als kritische Bestandsaufnahme der Grundlagen aufgefaßt, die bisher als unabdingbar für Wirklichkeitsbeziehungen erkannt wurden - soweit sie überhaupt erkannt wurden. Nur im Denken ist Geschlossenheit zu erreichen; allein die Konzentration auf die grundlegenden, in allen Gedanken sich bestätigenden, durchsetzenden Bedingungen erreicht einen dichten und ausreichend stabilen Zusammenhang, mit dem das Bewußtsein sich überall ausreichend zu orientieren, wenngleich nicht abschließend zu stabilisieren fähig wird. Ein solcher Zusammenhang würde als Surrogat der Wirklichkeitskohärenz vollkommen mißverstanden. Die Geschlossenheit des Kontextes der Denkmittel ist niemals eine fertige, konstante Größe, sondern wesentlich ein offenes System, das an allen Stellen beständig sich wandelt, aber auf eine durchschaubare und deshalb auch beherrschbare Weise. Es ist ein unkritisch mitgeschlepptes, metaphysisches Relikt, die Geschlossenheit des Denkens substantiell und statisch zu verstehen und direkt greifbar machen zu wollen in der Vorstellung der Einheit des denkenden Subjekts als des Ausganges aller Gedanken und Grund ihrer Bedeutung sowie ihrer diversen systematischen Verflechtungen.
Gedanken lassen sich nicht auf das leistende Subjekt als Ursprung reduzieren, sie weisen vielmehr über jedes hinaus. Zwar sind uns die Gedanken des Denkens nur nach den begrenzten Fähigkeiten unserer Reflexion zugänglich, aber indem wir die Unübersteigbarkeit und die Bestimmtheit unserer Grenzen denken, befreien wir uns in Grenzen von ihnen und schränken in seiner Bedeutung das ein, auf das allerdings nicht verzichtet werden kann. Gewiß kann nur ein sich auf sich selbst konzentrierendes Wesen den Konzentrationsraum, das Denken der Gedanken, erfassen, gewiß aber ist dieser Raum unendlich weiter dimensioniert als die flüchtige Selbstgewißheit eines Subjekts. Über die Subjekte hinweg entwickeln sich die Gedanken; sie werden unzureichend, nicht in ihrem Kern erfaßt, wenn man sie nur als im Subjekt des verstehenden Zugriffs auf sie oder in einer Geist genannten Subjektgemeinschaft entstehend ansetzt. Nicht zufällig sieht man die Gedanken an ihrem vermeintlichen Ursprungspunkt nicht; an diesen sich wendend verliert sich das Bewußtsein zwangsläufig an die subjektive Färbung, an das, was das Leben der Verstehenden allen Gedanken unvermeidlich mitgibt. An diese Konkretion sich haltend eröffnet sich aber nur die konkrete Person im Rahmen ihrer kontingenten Bedingungen. Die heute dominant geübte Praxis, Philosophie als Autorenphilosophie aufzufassen und Gedanken als Produkte eines Denkers, in den es sich einzuleben gilt, um fiktiv an wenigstens einer Gedankenquelle teilhaben und eine Ahnung von produktiver Tätigkeit gewinnen zu können, anzusetzen, hat als Grundlage den resignierten Verzicht auf eigenes Denken. So läßt sich zwar Einheit, die Einheit einer Person in ihren Gedankekn, erreichen, aber diese ist nur die beschränkte einer Perspektive, die bestimmte Produktion eines Subjekts im bestimmten, mehr oder weniger engen Rahmen des ihm zu einer bestimmten Zeit allein Möglichen, der vergänglich ist wie alles Leben. Der nur auslegende oder registrierende Bezug auf historische Konstellationen und ebenso die vermeintlich Relevanz sichernde Identifikation mit der Leistung eines originalen Protagonisten des Weltgeistes, dem es nach einer frommen Hypothese eingefallen sein soll, in erwählten Individuen sich einen immer jeweils neuen, aber sicheren Anfang und auch Abschluß zu geben, während in Wahrheit kein Individuum das Wunder einer ursachelosen, geschweige denn in sich vollendeten Neuschöpfung vollbringen kann, sondern lediglich an Ausschnitten der es übergreifenden und letztlich auch übergehenden Entwicklung in sehr beschränktem Maß spontane Aktivität zu realisieren fähig ist, bleiben ebenso Rückzugsformen wie die sprachanalytische Wendung zu den Grundlagen des Weltverstehens in der gewöhnlichen Sprache.
Philosophie war von Anfang an Sprachphilosophie, aber nicht als das bloße Analysieren vorliegender Sprachen und Systeme, sonden wesentlich als Schöpfung von Sprache für Probleme und ihre Lösungen. Philosophisches Denken mußte sich immer die Sprache schaffen, die es ermöglichte, einmal entwickelte Gedanken, ihren Fundus bergend, zugleich aber ihr Potential aktivierend, zu überschreiten. Die Unverzichtbarkeit der Sprache als Grundmittel der Konstitution immer neuer Bedeutungen, in denen sich das Denken zwischen seiner Herkunft und Zukunft jeweils aktuell ausreichend feste, aber nicht starre Konturen gibt, kann nicht als Beschränkung, die nur einengt, sondern muß vielmehr als fundamentale Bedingung von Produktivität verstanden werden. Philosophie hat sich die Sprache sowohl für ihr dauernd sich verändernden Probleme, die teils vorgegeben, teils aber auch dann selbsterzeugt sind, wenn sie sich im Aufbrechen geschaffener Bedeutungen und gefundener Lösungen durch die immer stellbare Warumfrage ergeben, als auch für ihre Antworten zu erfinden.
Die Konzentration der analytischen Sprachphilosophie auf die Umgangssprache, von der man sich restlose Klarheit und die Beseitigung von Scheinproblemen erhoffte, hat handstreichartig, allerdings nur deklarativ, fast alle wichtigen philosophischen Themen beseitigt und zu einer bemerkenswerten Selbststerilisierung des Denkens geführt. Nicht Bescheidenheit, nicht der begründetet Verzicht auf Gedanken, die in bisher Ungedachtes auszugreifen wagen, zugunsten einer bloßen Bestandsaufnahme der Elemente des einfachsten, alltäglichen, also ganz unentwickelten Wirklichkeitsverstehens, sondern fahrlässige Unwissenheit über das, was Philosophie war und, bisher unwiderlegt, sein kann, führte zur Auslaugung und Banalisierung der tradierten philosophischen Potentiale.
Sprache ist Instrument und Sediment des Denkens; in ihr liegt die Auseinandersetzung des Denkens mit der externen Wirklichkeit wie mit sich selbst vor. Aber sie ist kein ewiger Bestand, auch nicht in ihren Grundstrukturen; sie verändert sich so, wie das Denken sich verändert, in dem es vordringt in alle erreichbaren Wirklichkeiten, sich erweitert und verfeinert. Die Reflexion auf die Sprache hat diese als das je entwickelte Netz der Gedanken zu begreifen, das in der Auseinandersetzung mit der Realität gebildet wurde. Sprache zu begreifen, das bedeutet zentral auch dies, zu verstehen, wie die Instrumente der Erfassung von Wirklichkeit sich mit dieser haben verändern können, wie sie sich mit dieser verändern müssen. Es ist unrealistisch, von einer nur konstatierenden Analyse der jeweiligen Umgangssprache mehr zu erwarten als eine vorläufige Klärung sprachlicher Sachverhalte gemäß den standardisierten Normen, wie sie sich gerade ergeben haben. Die Zerlegung von Sätzen und Satzsystemen kann nicht auf die wirklich letzten, sie konstituierenden Bestandteile kommen; denn allein in einem allumfassenden System, das die ganze Wirklichkeit ergreift und durchdringt, d.h. in überall beherrschbare Zusammenhänge von Bedeutungen übersetzt hat, wäre die Bedeutung eines Gedankenes, der über sich hinausweist auf das, worin er nur einen beschränkten Wert hat, abschließend zu ermitteln.
Die dynamische Kraft der Sprache, die in bloß analytisch-feststellender Einstellung allenfalls unzureichend erkannt, keineswegs aber in ihrem Grund begriffen oder gar fruchtbar gemacht werden kann, hat sich unübersehbar in der Geschichte des menschlichen Denkens, das sich immer dem naheliegenden Konformismus und der Ausbreitung in den pure Gewohnheit gewordenen Schablonen erfolgreich widersetzt hat, machtvoll durchgesetzt; sie verhindert es immer wieder, daß das Denken in bloßer Wiederholung entartet. Sie macht es auch möglich, daß die Gedanken, sicher von dem Kontext, in dem sie entstanden, geleitet, über die Grenzen des Erreichten vordringen, in dem das Denken ohne Spontaneität zum Realitätsverlust und Obskurantismus verkümmern muß. Allein die Aktivierung der Potential des Denkens durch ein spontanes Bewußtsein kann den Obskurantismus entlarven und zerstören, der in den Wissenschaften allzu gerne sich tarnt mit dem immer passenden Hinweis auf das Gebot methodischer Strenge, als seien deren Normen ewigen Himmelsgaben, an denen es um jeden oder fast jeden Preis festzuhalten gelte, während sie in Wahrheit oft nichts anderes sind als dogmatisch gesetzte Verbote, frei das Denkmögliche und sich in diesem zu entfalten.
Die Zeit der großen geschlossenen, alles durchdringenden Systeme ist endgültig vorbei; die Erinnerung an die faszinierenden Dokumente des spekulativ-metaphysischen Systemwillens kann den menschlichen Geist letztlich nicht beirren. Was verlorenging, war es wert unterzugehen. Nie waren die Systematisierungen der Welterkenntnis wirklich das, was zu sein sie prätendierten. Eine aufgeklärte und aufklärende Erinnerung an sie muß realistisch die bewahrenswerten Kerne extrahieren. Es kommt immer wieder darauf an, den überkommenen Gedanken und Theorien das zu entnehmen, was sich in die in je aktuelle Wirklichkeit eingreifenden Gedanken überführen läßt. Es ist sinnlos, sich an alte Theorieformen zu klammern und deren Grundnormen umstandslos als Forderungen sich zu eigen zu machen.
Es gilt aber, den unter allen Veränderungen stabil bleibenden Kern der überkommenen Systeme zu erkennen und sich von seinen geschichtlich konkret gewordenen Ausgestaltungen zu lösen, um ihn für erneute, variierte Realisierung frei zu machen. Was alle umfassenden Systeme zu realisieren und auf Dauer zu gewährleisten unternahmen, war dies: dem denkeden Geist einen hinreichend stabilen Rahmen der geregelten, immer wieder belebbaren und zu sublimierenden Konzentration auf sich in allen konkreten Bezügen zu verschaffen. Was zur Zeit der Metaphysik als zunächst fast unmittelbare, in ihrem Endstadium aber schon ganz von Reflexion durchsetze Erfahrung der vermeintlich objektiv vorliegenden, quasi dinglich manifesten Vernunft in allen ihren Realitätsdimensionen oder Modi sich vollzog, das erwies sich nach kritischer Musterung des Denkmöglichen und somit auch des konkret Erfahrbaren als große und nur bei energischer Selbstkontrolle der Neigung des Bewußtseins zu perfekten Bildern vermeidbare Illusion. Nie war das, was womöglich die Welt im Innersten zusammenhält, in Theorie übersetzt und in dieser angeeigneten Form ein zuverlässiger Stabilisator menschlicher Meinungen und Handlungen. Die Wirklichkeit - und mit ihr die über die Gegenwart hinausreichenden Grundlagen - war und ist immer nur als die je eingeschränkt bekannte, als die mental erschaffene für einen Denkenden; sie kann nichts anderes sein als ein zusammenfassender Ausdruck des Standes der Evolution des Bewußtsein bezüglich dessen, was überhaupt für es geworden ist. Nicht das, worauf Bewußtsein sich bezieht, ist eine sichere Größe für es, sondern allein - und in Grenzen - seine Beziehung auf es und deren Formen; denn das Worauf des Bezuges verändert sich beständig in einem unübersehbaren, nie ganz für das Bewußtsein werdenden, transzendenten Realprozeß.
Die Beziehung allein ist relativ fest, auf sie kann man als auf ein Konstantes zurückkommen; sie ermöglicht es, auch in den sich wandelnden Konstellationen ein sich Durchhaltendes zu erkennen und dieses sogar als das eigentlich Essentielle, weil Wandel überhaupt erst erfahrbar und beherrschbar machende Prinzipielle, zu setzen und zu begreifen. Das seine notwendig begrenzten Möglichkeiten einkalkulierende Wirklichkeitsbewußtsein entwirft sich nur vorläufige, unzulängliche Bilder der ihm in Wahrheit vorausliegenden, fast ganz entzogenen und enteilenden Wirklichkeit an sich. In nur flüchtigen Bildern erscheinen Ausschnitte der Welt als Inbegriff alles dessen, was jemals Wirklichkeit für ein Bewußtsein sein kann in den Grenzen seiner Zeit.
Produktiv ist das denkende Bewußtsein kompositiv; aus einzelnen Bildern wird ein unzulänglicher Zusammenhang, der nur idealiter für das Ganze steht, erschaffen, der für die rational kontrollierte Erfahrung des Neuen die Grundlage abgibt. In dem Maße gewinnt die zugänglich gewordene Wirklichkeit, d.h. der räumlich-zeitlich-gedanklich begrenzte Ausschnitt der transzendenten Welt, Stabilität für das Bewußtsein, wie es in sich selbst stabil wird. So kann es sogar wirklich Welt erfahren: als den Inbegriff möglicher Erfahrungen und der mal besser, mal schlechter kalkulierbaren Überraschung. Von der Stabilität der Wirklichkeit bzw. ihrer Verhältnisse wissen wir nur soviel, wie sich uns über die mehr oder weniger große Stabilität der Zugangsweisen zu ihr offenbart; dieser Umstand ist freilich nicht immer hinreichend bewußt, er droht bisweilen sogar ganz verlorenzugehen in der suggestiv-aufdringlichen Annahme, der Grund der für die theoretischen und praktischen Bedürfnisse gewöhnlich ausreichenden Sicherheit in uns selbst liege in Wahrheit in der Konstanz der Realverhältnisse. Konstanz aber ist keine reale Eigenschaft von Realität, sondern ein grundlegendes, transzendentales Produkt ihrer Deutung und für ihre Deutungen. Die konkrete Erfahrung von Konstanz ist gewiß eine subjektiv fundamentale Bedingung dafür, daß Gedanken überhaupt ihre Wirklichkeit treffen und die Wirklichkeit des Geistes, d.i. den Inbegriff aller subjektiven und objektiven Konstituentien eines reflektierenden, am Denken partizipierenden, konkreten Subjekts, fundieren; aber der logische Grund der Konstanz, mag er auch subjektiv erst durch geglückte, erfolgreich kontrollierte Erfahrungen gewiß werden können, wird nicht empirisch erreicht, sondern geht vorher. Er - bzw. sie - ist nur als Moment in der übergreifenden Grundstruktur aller Denkleistungen zu verstehen und nimmt so die Bedeutung einer fundamentalen Bedingung der qualifizierten Vielheit in qualifizierter Einheit an.
Die unmittelbare Erfahrung vermag zwar auf Grundsätzliches zu führen, aber erst in der Reflexion kann dieses in seinem logischen Charakter erkannt werden. Nicht in direkter Einstellung und deren Beziehung zur externen Wirklichkeit, die es wegen der unüberspringbaren, bedingenden und beschränkten Instrumente nicht geben kann, kann das Denken die Konzentrationsforderung in der Beziehung auf einen festen Ruhe- und Fluchtpunkt erfüllen, der zentralperspektivisch alles auf sich zieht und als vorgegebene Instanz organisiert, sondern in sich selbst muß es eine nicht punktuell, starr zu denkende 'Substanz', vielmehr einen Dimension habenden, sich entfalten könnenden Grund produzieren, der den alle vorläufigen, vermeintlich substantiell festen Festlegungen des Denkens aufreibenden Polyperspektivismus strukturiert. Konzentration geht recht verstanden nicht auf einen vermeintlich alles rückführbar machenden, an ihm selbst ganz dunklen Punkt, sondern auf die intensive Entfaltung einer beständig wachsenden, an Integrations- und Differenzierungskraft zunehmenden Dimension von und für Grundlegungen. Es gibt im und für das Denken keine statisch zugrundeliegende 'Substanz', auf die man nach Belieben immer wieder gleich zurückkommen kann, vielmehr wird jeder einmal erreichte Gedanke mit grundlegender Bedeutung oder Funktion zu einem erreichten Beziehungspunkt im Zusammenhang mit anderen und zu immer neuen, selbst wieder überschreitbaren Beziehungspunkten tranzendiert und folglich mehr oder weniger eingreifend beständig verändert, da seine - wie jedes Gedankens - Bedeutung abhängt von dem Netz, in dem er seinen bestimmten Ort hat.
Zu lange und zu leicht hat das Denken sich an der Anschauung, an ihrer Fähigkeit, räumlich gediegende Verhältnisse wenigstens für Augenblicke als konstante Größen zu präsentieren, orientiert und dazu verleiten lassen, die spezifischen Denkinhalte, deren letzte formale Grundlagen zumal, wie anschaulich konturierte und stabilisierte Gehalte zu verstehen. Überdies suggeriert die Orientierung an den spezifischen Möglichkeiten der Anschauung, es gäbe einen direkten, nämlich anschaulich-intuitiven Zugang zu den letzten, wenn auch nur minimal bestimmten Gründen im Denken, die metaphysisch betrachtet auch die letzten Seinsgründe waren. Im Prinzip wurde damit das letzte Fundament als ein empirisches, weil als empirisch auffindbar wie anderes Empirisches auch verstanden, gesetzt. In solcher Nivellierung geht der besondere Rang, der für Fundamente beansprucht werden muß, zwangsläufig verloren; es ist außerdem auf diese Weise ganz unverständlich, warum gerade der innerste Kern, die alles tragende Grundlage, von dem man eigentlich annehmen muß, er sei gerade als solcher schwer, allenfalls am Ende der Mühen des Denkens und der Erfahrung erschließbar, so früh schon, ja sogar am Anfang schon hat entdeckt werden können. Was so früh, in der Antike, entdeckt wurde, das waren Grundlagen gemäß dem seinerzeit entfalteten Wissen von ihnen, also keineswegs die ewigen Grundmuster der Welt und des Zugangs zu ihr.
Zweifellos haben im Denken des Denkens wie im Denken des Seins immer bestimmte, in ihrer sprachlichen Gestalt gleichgebliebene Grundbegriffe dominiert und alle geistige Aktivität begleitet; so drängte die Annahme sich auf, es gäbe in der Wirklichkeit wie im Denken einen alles tragenden Kernbestand, auf den man unvermeidlich immer zurückkommen mußte. Man versteht aber die Grundlagen des Denkens, die weder der Wirklichkeit entnommen noch ihr als Realgrund einfach untergeschoben werden können, nicht, wenn man sie nicht als dynamische Prinzipien der Entfaltung des Denkens auch über das hinaus, was ihren semantischen Bestand ausmacht, versteht, wenn man sie also nicht als durch die mit ihnen möglich gewordene Kraft des Denkens dynamisierbar begreift.
Denken, wenn es sich nicht ohne Not selbst beschränkt und auf das Überkommene nur reagierend verhält, ist spekulativ; als solches läßt es sich nicht an den jeweils erreichten Theorien feststellen, sondern breitet sich in den Raum aus, der überall von der unerschöpflich-produktiven Phantasie erschaffen wird, damit die schon gewonnenen Gedanken über die Dimension der sie begreifbar machenden Gedanken hinaus noch die bekommen, in der sie sich als Gründe von unabsehbaren Folgen geltend machen und bewähren können. Phantasie, die das Denken in produktive Unruhe versetzt und ihm den anarchischen Drang nach Erweiterung einpflanzt, der die Vervollständigung des je Gedachten um die unaufhörlich andrängenden, neuen Stoffe, die aus der immer entfliehenden Zukunft, den unauslotbaren, fern bleibenden, sich ins Unendliche verschiebenden Räumen kommen, will und auch erreicht, könnte als Bedrohung der inneren Stabilität und somit der intensiven Selbstkonzentration mißdeutet werden. Aber ihre Realisierung bleibt immer an den schon entwickelten Rahmen von und für Gedanken gebunden; anarchisch ist sie nur insofern, als sie die Herrschaft von Gedanken im Sinne eines bloßen Wiederholungszwanges aufhebt. Überdies erweisen sich bestimmte Grundgedanken, z.B. Identität oder Differenz, in gewisser Weise als sichere und sichernde Instanzen, an denen die Kraft auch der phantasieerfülltesten Reflexion sich in eigentümlicher Weise bricht, an denen sie sich zu orientieren hat, die sie in gewisser Weise nicht verändern kann, wenn sie sich nicht durch den Verlust an Bestimmtheit und durch Sequenzlosigkeit ganz diffus machen will. Seiner Extension nach ist das spekulative Denken frei, in sich selbst aber ist es an die freilich immer differenzierende Wiederholung nur der Form nach gleichbleibender Grundschemata, die sich darin bisweilen sogar eingreifend abwandeln, gehalten. Die Phantasie ist zwar in Grenzen, die sie sichern, gehalten, aber sie ist doch auch grenzenlos und kann sich zu ihren Grenzen entgrenzend verhalten; ohne diese gehaltene Kraft stieße das Denken auf einen Grund in ihm selbst, der nicht der seinige, der nicht für es, nicht beherrschbar und für veränderte Forderungen an es in veränderten Konstellationen differenzierbar wäre.
Die immer wieder beschworene Stabilität der Grundmuster besteht nicht wirklich, ihre Resistenz gegenüber Reflexion ist nur Schein. Unbestreitbar und immer wieder bestaunt ist zwar der Umstand, daß die in der Antike entdeckten Fundamentalkategorien, ob man sie nun als metaphysische Basen oder als transzendentale Funktionen akzeptiert, in ihrer Semantik verblüffend wenig sich verändert haben und um nur wenige relevante Bedeutungskomponenten bereichert werden konnten. Aber der Wandel im Wissen, der sich auf ihrer Basis ergeben hat, muß die Frage aufwerfen, ob Grundlagen wirklich immun sind gegen ihre Differenzierung, ob sie als undifferenzierte Gebilde nicht notwendig unscharf und unsensibel für das werden müssen, um dessentwillen sie geschöpft wurden. Wandel und Konstanz sind die Grundpfeiler, die elementaren Kontraste, in denen alles Denken sich vollzieht; ihr Verhältnis gilt es zu begreifen, in den Gedankensequenzen sich realisierend zu verfolgen.
Jeder Gedanke, der in einen auch für ihn relevanten, bedeutungsvollen Zusammenhang eintritt, der für diesen oder aus ihm entwickelt wurde, der als Interpretament eines einzelnen Grundgedankens oder des ganzen Systems der Kategorien dient, läßt nicht unberührt, was er mit anderen erschließt; er verändert das, worauf er gerichtet wurde, und dabei auch sich selbst. Gedanken haben keine Bedeutung außerhalb der Gedanken, für die sie und in deren Perspektive sie entwickelt werden. Die Bedeutung von Gedanken verschließt sich nicht in ihnen, sie ist vielmehr immer schon an ihre sich beständig erweiternden zusammenhänge abgegeben. Permanent verändern sich alle Bedeutungen, nur ihre Namen erhalten sich als die unerläßlichen Fixpunkte der kontrollierten Reflexion. Die Namen fixieren nur, aber notwendig, die Oberfläche, die die vom Denken abhängigen Kernbestände habe müssen, um überhaupt in Reflexion zugänglich zu werden und zu bleiben, ohne zu zerfließen. Immer wieder neu bekommen die einmal gefaßten Gedanken einen anderen Ort, an dem sie anders erscheinen, zugewiesen, sie werden mit jedem Gedanken stetig topologisch verschoben und verändert, indem das sie übergreifende System des Wissens von und mit ihnen abgewandelt wird.
Die wahre 'Substanz' der Gedanken liegt in ihnen, aber doch wesentlich auch außerhalb; sie liegt in dem, was sie zu denken möglich macht, also in der Zukunft mit anderen, ebensolchen 'Substanzen'. Der leicht beirrende, unvermeidliche Schein der Stabilität von Grundgedanken beruht darauf, daß die Durchdringung, also die differenzierende Erfassung von Gedanken immer an ihrer Oberfläche anfangen und bei Oberflächen enden muß. Denken denkt isolierte Gebilde mit und in Beziehung auf solche und korrigiert sich dabei sofort, bleibt dieser Form des Progresses aber notwendig verhaftet. Nicht erstaunlich ist bei näherer Betrachtung die Stabilität oder Schein von Stabilität bei Grundgedanken, die das Denken überall begleitet haben und sich in allen Wiederholungen verstärkt aufdrängen; aber dies, daß sie wie scheinbar ganz konstante Größen oder feste Muster immer wiederholt, immer, scheinbar nur mechanisch angewandt, in Funktion gesetzt werden müssen, indiziert näher besehen vor allem die überall durchschlagende Kraft der Endlichkeit des menschlichen Denkens, das, ehe es sich in die Welt erstreckt oder in seine eigene Dimension vertieft, feste Stationen setzen, d.h. erzeugen muß, um überhaupt solche verlassen zu können.
Zeitlichkeit und der Zwang zu logischer Anschaulichkeit - das bedeutet: fiktive Vereinheitlichung einer umfassenden Dimension in einem Gedankenbild oder Stationsausdruck - bedingen die Diskursivität des endlichen Denkens oder der Reflexion. Wir müssen denkend in gewisser Weise immer wieder neu, an den Oberflächen beginnen, aber wir sind nie am wahren Anfang. Aneignung und schöpferische Fortsetzung sind für uns ebenso notwendig wie die Bindung an die gesetzten Rahmenbedingungen; daß alle Gedanken, also auch die Grundlagen der Erschließung, immer neu erschlossen werden müssen von ihrer Oberfläche an bis zum unabsehbaren Ende, diese ihre formale Gleichheit, welche die Grundlage ihrer Integration in die sie erhellende Sequenz ist, erzeugt den festen, notwendigen Schein von Stabilität, der von den Grundlagen auf alles Grundgelegte abstrahlt. Allein darauf beruht die Stabilität der Grundlagengedanken, daß die Erschließungsbedingungen von Gedanken formal gleich bleiben. Daraus, daß alle Gedanken, um bestimmt werden zu können, identifiziert werden müssen, folgt nicht die Undifferenzierbarkeit der Identitätskategorie.
Es ist die Aufgabe der umfassenden Reflexionstopologie, der Theorie der endlichen Bewegungen des Denkens von und zu Gedanken, die Bestimmtheit von Gedanken und besonders der Grundgedanken oder Kategorien bezüglich der verschiedenen bestimmten, wechselweise voneinander abhängenden logischen Örter des Denkens, der Stellen, an denen die logische Reflexion sich fixieren und ausrichten kann, um mit der dort gewonnenen Kontur übergehen zu können zu neuen Stellen, die sie zu schöpfen, zu besetzen hat, begreifbar zu machen. Logische Theorie besteht nicht nur in der Systematisierung schon gewonnener, womöglich erprobter Schemata und Formen, sondern sie hat wesentlich die Aufgabe, das schon Erreichte und Vertrautgewordene durch Erfindung von Kontrasten und Alternativen zu ihm neu durchsichtig zu machen und zu differenzieren. Auch im logischen Gebiet gilt es, die normative Kraft des Faktischen zu brechen, den Schein aufzuheben, das geknüpfte Gedankennetz sei lückenlos und starr, biete keine Möglichkeit, Spontaneität in ihm oder im Anschluß an es zu entfalten.
Die Reflexion muß die Kraft aufbringen, immer über sich selbst hinauszudringen, ohne sich dabei zu verlassen; es kommt für sie darauf an, durch kühne, aber kalkulierte Analogien das, worüber sie schon begrenzt verfügt, zu einem Gelände neuer Fruchtbarkeit für alle Gedanken zu machen, die ausgeleierten Verstehensmöglichkeiten aufzubrechen und um ein wie zulänglich oder unzureichend auch immer einbegriffenes Entlegenes spannungsvoll zu erweitern.
Denken ist wesentlich Denken des Seins, Denken im fruchtbaren Bathos der Erfahrung; als Denken des Denkens entzieht es sich dem nicht, sondern es erschließt sich als eigene Dimension in und mit dieser Beziehung. Denken als Reflexion eines Subjekts ist nicht ein isolierter Selbstvollzug, sondern die Konzentration bewährter logischer Möglichkeitsgründe auf die ihnen innewohnende Dynamik des reinen Denkens. In den logischen Möglichkeitsgründen liegt als fundamentales Konstituens die Beziehung auf die durch sie grundgelegte Erfahrung. Erst die Analyse der Funktion logisch-transzendentaler Gründe in der Erfahrung vermag den formal-allgemeinen Charakter der Grundgedanken wirklich, d.h. hinsichtlich der Leistung zu entdecken. Die Erfahrung stellt dem Denken unablässig die Forderung, seinen Bestand in geeigneter Weise zum Zweck ihrer und seiner eigenen Erweiterung zu differenzieren. Nicht das, was die Erfahrung je konkret ist bzw. erbringt, wohl aber das, was sie in ihren Grundlagen benötigt, um über jeden konkreten Punkt, d.h. über jeden Stand der Entwicklung des Erfahrungswissens in bestimmter theoretischer Gestalt, die von Vorläufigkeit gezeichnet bleibt, hinauszukommen, bereichert die Reflexion um entdecktes Denken, um entdeckte Denkmomente direkt; nicht wird so die Fülle des denkend Erschlossenen bloß quantitativ fortgesetzt, sondern es steigert sich so die Intensität der Beziehungen im Netz der Grundlagen, und das sie begleitende Bewußtsein gewinnt ihr entsprechend an Klarheit und Einsicht in seine erkennbaren Schranken. Denken, das geschichtlich-kulturell und raum-zeitlich, das positional determiniert ist, muß reflektierend sich entfalten und gestalten, es ist nicht reines Denken. Denken als Reflexion trifft nie auf eine unberührte Wirklichkeit, sondern auf die schon vorgeprägte. Gleichgültig ob das Denken sich auf die geistige oder naturale Wirklichkeit bezieht, es trifft dabei auch auf sich selbst, es reflektiert sich an und in dem, worauf immer es sich auch beziehen mag. Denken als Reflexion, als die Bewegung eines Denkenden, dessen Bezugspunkte und Realisierungsrahmen nie schlechthin fremde, sondern auch schon integrierte sind, ist deshalb Selbstdifferenzierung am Anderen seiner selbst. Überall kommt Denken auf sich, d.h. auf das schon von ihm Bestimmte zurück und nimmt dieses Zurückkommen differenziert noch einmal in sich zurück.
Die topologische Theorie des Denkens als der Reflexion ist Theorie eines bestimmten, des positional determinierten Modus des reinen Denkens. Nicht direkt zugänglich ist reines Denken; es muß sich in der, durch die Reflexion erschließen. Auch die invarianten Grundstrukturen und Kategorien, die das Denken in allen möglichen gegenständlichen Einstellungen stabilisieren und beherrschen, bedürfen der nicht abschließbaren Diskursion der Reflexion; sie kommen in der Reflexion zweimal vor: als das, worauf sie sich richtet, und als das, in dem sie schon gerichtet ist. Die Grundstrukturen und Kategorien des reinen Denkens erscheinen, insofern die Reflexion ihrer als ihrer Invarianten innewird, gedoppelt und bilden so eine in sich selbständige Dimension, die aber nur begrenzt, in den Bedingungen des verhängten Scheins, erschließbar ist. Indem Reflexion sich selbst durchdringt, erkennt sie die Bedingungen des mit ihr gesetzten Scheins und baut ihn, obgleich nie endgültig, ab. Der unendlich bleibende Abstand zwischen Reflexion und reinem Denken, das sich notwendig der topologischen Fixierung und Gliederung seiner Momente in ihm entziehen muß, zwingt das endliche Denken nicht zum Verharren in seinen Grenzen; in der Möglichkeit der Reflexion, die Grenzen und sich an diesen zu erreichen, liegt die Möglichkeit der bestimmten Antizipation des Jenseits dieser Grenze, das aber nur begrenzt, abhängig vom Grad der Erschließung der Bestimmtheit der Reflexionsgrenzen, entfaltet werden kann.
Weil niemals die Wirklichkeit vollkommen in Gedanken übersetzt sein wird, weil die Grundlagen des reinen Denkens in der Reflexion niemals anders als nur erscheinend greifbar werden und so von ihrer ganz angemessenen Fassung unendlich verschieden bleiben, bleibt dem positional determinierten Denken die Möglichkeit seiner Entfaltung in die und in den ihm immanenten Richtungen. Als auf die externe Realität und die Grundlagen bezogen bleibt das Denken gebunden, aber auch unendlich frei; in beiden Richtungen sind seine Möglichkeiten unausschöpfbar. Die Topologie der Grundgedanken als die Lehre von ihren Verhältnissen und deren Bedingungen in ihnen hat sie als die Voraussetzungen der sich erhaltenden theoretischen Freiheit, ohne die die praktische nicht zu denken ist, begreifbar zu machen.
Der Philosophie ist seit Parmenides die unerledigbare Aufgabe gestellt, dem sich immer auch zerstreuenden Weltbewußtsein die Möglichkeit einer differenzierten und differenzierenden Konzentration im Denken zu verschaffen. Den dem natürlichen, den Realitäten nur angepaßten Bewußtsein entstammenden Widerständen dagegen hat sie sich einsichtig und energisch zu widersetzen, um die Dimension zu erlangen, die es möglich macht, über die Grenzen der Gegenwart hinauszudenken und für kommende Probleme offen zu sein.
VII, 670 Seiten
ISBN 978-3-16-244793-7
erschienen bei J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1984
gebunden € 114.00
Die Wiedergabe des Textes erfolgt hier mit Genehmigung
des Verlages Mohr Siebeck.